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J
U L E S V E R N E
(08.
Februar 1828 - 24. März 1905)
S
O N E T T E
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Ralf
Tauchmann
(erschienen
November 2009 in der Nautilus,
der
Zeitschrift des Jules-Verne-Clubs
Deutschland)
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Herbei, Kindheitserinnerungen
an
den ach! so hoch verehrten
Schutzpatron
von unbeschwerten,
buchwütigen
Lesejungen;
kaum
bis in mein Reich gedrungen
samt
weltreisenden Gefährten,
Kapitänen,
Großgelehrten,
ward
heißhungrig er verschlungen...
Er
eröffnete mir Weiten
im
alltäglichen Gewühl
buchstäblich
beengter Zeiten
und
bot mir auf Bücherseiten
unpolitisches
Asyl…
Mein
Lebenswegweiser – mein Jules!
Ralf Tauchmann
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Jules-Verne Sonette
in Französisch
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Versetzen wir uns zurück ins 19. Jahrhundert. Zu Zeiten ohne
Radio, Fernsehen oder
Internet gab es an langen Abenden unter vielen anderen passe-temps
als eine aktivere Form des geistigen Zeitvertreibs das
Schreiben von Sonetten. Auch die Familie Verne frönte offenbar
dieser gedanklichen
Herausforderung in Stunden der Muße und des geselligen
Beieinanders.
Das Sonett gibt einen strengen Formrahmen vor, den es mit Inhalt zu
füllen
gilt, der am Ende in eine allgemeingültige Aussage
münden sollte. Das Sonettemachen
ist also weniger Formspielerei, sondern fordert zum Gedankensport
heraus, zum
Ausbreiten eines Gedankens, den es zum rationalen Kern zu
führen gilt. Das
Sonett zwingt zum „Herunterkochen“ der
Gefühle und bietet als äußerst
gedankenstarke Gedichtform auch Zugang für weniger lyrische
Gemüter.
In meinen Nachdichtungen habe ich die strenge Form zugunsten des
Inhalts etwas aufgebrochen.
Nur das Sonett DER DAMPF ist in Reim- und Versstruktur
vollends identisch.
Beginnen wir also chronologisch mit dem Sonett DER DAMPF, das
Jules Verne offenbar im Jahre 1847, also im Alter von 19
Jahren, geschrieben hat: |
DER DAMPF
(La
vapeur)
Der Dampf ist
heutzutag ganz oben auf der List’.
Nichts geht mehr ohne ihn! Ist’s für die Welt ein
Segen?
Um frei nach Wahl sich um die Erde zu bewegen,
Ist’s wahr, dass für die Reise solch Eile
nötig ist?
Zu Wasser und zu Land,
ohne zu überlegen,
Fliegt man nun hin und her, stets in kürzester Frist.
Man äfft die Sonne nach, die hoch auf ihren Wegen
Den Himmelsaufenthalt in einer Nacht bemisst.
Ein Segen
wär’s wohl nur – in Kriegszeiten wie heute,
Da die gegen den Tod einst ankämpfenden Leute
Vernichtet werden im ergrimmt geführten Kampf –,
Betriebe, um den Feind mit arger List zu beugen
Und für verbrauchte Krieger Nachschub zu erzeugen,
Auch Amor jede Nacht sein Liebeswerk mit Dampf.
Hier erleben wir den
jungen Jules Verne mit einem
ersten leisen Anklingen der späteren Außergewöhnlichen
Reisen, die ihn berühmt machen werden. Das Sonett
versetzt uns als
Zeitzeugnis zurück in das 19. Jahrhundert. Die
Erfindung der Dampfmaschine
ist gerade dabei, die Industrie- und Reiselandschaft grundlegend und
tiefgreifend umzugestalten. Die Welt beginnt sich zu beschleunigen,
wenn auch
noch nicht in dem heute gekannten Maße. Dampfschiffe
durchpflügen die Ozeane
und Dampflokomotiven rattern qualmend über stählerne
Schienenstränge. Die
Ortszeit reicht nicht mehr aus und die Zeitmessung muss weltweit
vereinheitlicht werden. Aber in den Fortschrittsgesang mischt sich
Fortschrittskritik. Die Reise läuft Gefahr, nur noch Mittel
zur simplen
Erreichung von Ziel und Zweck zu sein. Andererseits ändert die
Entdeckung der Dampfkraft
auch das Bild von Krieg und Kriegsführung. Neben der Reise um die Erde in 80 Tagen klingen
hier Themen an, wie man sie
später im kriegsironischen Ton des Romans Von
der Erde zum Mond oder beim liebenswert
fortschrittsfeindlichen Keraban der Starrkopf
wiederfindet, der
sich mit Händen und Füßen gegen „diese
modernen“ Reisemittel wehrt.
Auch aus dem Jahre 1847
stammt das Sonett DER
TOD.
Hier offenbart sich Jules Verne als überzeugter
Städter und Bürger.
Er sinniert als Durchreisender beim Anblick des dörflichen
Friedhofs über Leben
und Tod. Vor unseren Augen lebt erneut das 19. Jahrhundert auf, in dem
der
Unterschied zwischen Stadt und Land noch wesentlich
ausgeprägter ist als heutzutage.
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DER TOD
(La
mort)
In diesem armen Dorf mit bitterschwerem Leben
Verströmt das Totenfeld in kränklich trister
Blässe
Den schweren Tränengang der Eibe und Zypresse
Und lässt dem Reisenden die Seele schaudernd beben!
Wo Kapitelle sonst klagend gen Himmel streben
Im trügerischeren Ruhm der entschlafenen Reichen,
Weist ein zerbrechlich Kreuz als hochnaives Zeichen
Die Stelle, wo die Armen dem Elend sich entheben.
Ja, in der Stadt, die stets vor Lust und Freude sprühet,
Wo sich die Fülle um den kleinsten Wunsch bemühet,
Da endet nicht der Tod leibeigne Sklavenbande!
Im tristen Dorf jedoch liegt Mühsal unbenommen,
Oh! da könnte der Tod nicht früh genug wohl kommen.
Und doch stirbt es sich in der Stadt wie auf dem Lande!
Gleichfalls 1847
entstanden ist das Sonett DER
MOND. Eine Aneinanderreihung
von Aufzählungen.
Die gedankliche Struktur scheint „zerrissener“.
Letztlich entspricht sie aber voll
und ganz dem gewählten Bild – dem schwankenden Auf
und Ab bzw. Hin und Her des
Meeres unter der launischen
Gravitationsgewalt
des Mondes. |
DER MOND
(La
Lune)
Viele Leut auf der Welt sind Zerrbild ihrer Laune.
Man sucht den tiefren Grund und weiß doch nicht, warum!
Da bricht ein sanfter Geist, noch eben weise-stumm,
Im nächsten Augenblick schon voller Zorn vom Zaune;
Der eine spricht Verbot, dann erlaubt er die Sache;
Der andre, früh ganz englisch, wird abends zum Tartar.
Da ist verwirrt, zerstreut, wer klaren Denkens war,
Dem großen Redner fehlt vorm Richter jäh die Sprache.
Der eine nutzt das Frühstück und wechselt die
Gewohnheit;
Der andre wartet bis zum Abend nach der Brotzeit;
Der Geizige verteilt, was er sonst neidisch schont.
Den Progressiven zieht’s zu den Konservativen;
Woher dies Auf und Ab, aus welch launischen Tiefen?
Rührt’s wie Ebbe und Flut am Ende her vom Mond?
Das 1849 geschriebene
Sonett KEHRT DER GESTRENGE WINTER
malt ein
Stimmungsbild. Interessant für den hier 21-jährigen
Jules Verne deshalb, da
hier bereits die Bedeutung des Essens und der Verdauungsruhe zutage
tritt, die
viele seiner Romane begleiten wird. Schon seit jungen Jahren litt Jules
Verne
an Magenproblemen. Diesem Umstand wird es
gemeinhin zugeschrieben, dass in
seinen späteren Romanen die Speisekarte der Reisenden stets
viel Beachtung
findet. Ähnlich wie in diesem Sonett, wird sich in den Außergewöhnlichen Reisen
neben aktionsreichen Handlungssträngen auch
immer wieder Raum und Zeit zum genüsslichen Essen, Verweilen
und Plaudern
finden… und sei es – wie im Roman Die
Kinder des Kapitäns Grant – auf einem
Baum, wo man es sich inmitten eines
schrecklichen Hochwassers gemütlich macht und das Leben der
Vögel führt... |
KEHRT DER GESTRENGE WINTER
(Quand
par le dur hiver)
Kehrt der gestrenge Winter zurück an tristen Tagen,
Um mit flockigem Schnee das Dach weiß zu beziehn,
Dann lasst das Schnupfgesicht der trüben Zeit nur klagen.
An Reisig mangelt’s nicht, so füllt mir den Kamin!
Der Träumer, müßig, satt, legt nach dem
Speisen heiter
Die Füße an die Glut. Er träumt und glaubt
getrost
Ans Glück! Er will nur einen Sessel und nichts weiter,
Einen sanften Voltaire zum
Spott gegen den Frost.
Er schürt sein Feuer auf und bringt es neu zum Glühen,
Die Flamme lässt ins Dunkel einen Funken sprühen,
Der aufglimmt wie ein Stern; der Blick folget ihm nach.
Da scheint ihm, dass der Abendstern die Luft erhellet.
Das Trugbild erlangt Form; und wie ihn deucht, gesellet
Sich zur Wärme des Tags der Zauber noch der Nacht.
Im April 1886 wird Jules
Verne von einem Neffen
angeschossen, der anschließend in einer Heilanstalt
untergebracht wird. Die
Kugel blieb im linken Bein nahe dem Fußgelenk stecken und
konnte nie entfernt
werden. Richtig erholt hat sich Jules Verne davon nie. Ein halbes Jahr
lang konnte
der 58-jährige Jules Verne das Bett nicht verlassen und wurde
mit Morphium
gegen die starken Schmerzen behandelt. In dieser Zeit erschien das
damals
anonym veröffentlichte Sonett AN DAS MORPHIUM.
Die Frage der Schmerztherapie ist bis heute ein
„brennendes“ Thema,
auch wenn in der Öffentlichkeit nicht immer bemerkbar.
Insofern ist dieses
Sonett aus der getroffenen Auswahl vielleicht das aktuellste Gedicht
von Jules
Verne: |
AN DAS MORPHIUM
(A
la Morphine)
Wenn nötig, Doktor, geh und hol auf Merkurs Schwingen
Den
teuren Balsam mir noch früher als zuvor.
Der Augenblick ist da, die Spritze mir zu bringen,
Die mich vom Höllenbett zum Himmel hebt empor.
Hab, Doktor, meinen Dank! währt auch bis zum Gesunden
Noch manch endlosen Tag die lang weilende Kur!
Der Balsam ist so göttlich, als wäre er erfunden
Für den Gebrauch der Götter direkt von Epikur .
Ich spüre, wie er mich durchdringt und in mir kreist.
Welch unbeschreiblich Wohl im Leibe und im Geist,
Die absolute Ruh senkt sich auf mich herab.
Ah! hundert Male bohr die Nadel in mich ein,
Sankt Morphium, hundert Mal werd ich Dich dafür
weih’n.
Als Gottheit hoch verehrt hätte Dich Äskulap!
Jules Vernes einziger
Sohn, Michel Verne, hat die Anfang
des 20. Jahrhunderts erschienen letzten Romane der Außergewöhnlichen
Reisen stark mitgeprägt. Er hat, wenn man so
sagen will, die „Schreibwerkstatt“ Jules
Verne
von seinem Vater im gegenseitigen Zusammenwirken noch zu dessen
Lebzeiten
teilweise übernommen und nach dessen Tod eine Weile
fortgeführt. Deshalb
scheint es nicht unangemessen, ein Sonett von Michel Verne zum
Abschluss folgen
zu lassen. Im Gegensatz zu den Sonetten des Vaters zeichnet sich dieses
Sonett über
die Vergänglichkeit des Lebens weniger durch eine strenge
Gedankenführung, als
vielmehr durch einen stark lyrischen Ton aus: |
VOR EINER
ZERBROCHENEN SÄULE
(Devant
une colonne brisée)
Sag,
Säule, die vor mir dort schwarz und abgeschlagen
Wie ein zertrennter Arm stumpf aus dem Boden ragt:
Was wurde wohl aus dem gestürzten Helden, sag,
Den zu ewigem Ruhm Dein Sockel sollte tragen?
Oh, alter Marmor, künd von seinen Heldentagen
Oder sag nur den Namen, den längst die Nacht verschlang!...
Doch wer könnt Antwort geben auf den verhallten Sang?
Denn ach! gegen die Zeit wird nie ein Sieg geschlagen.
– Oft ziehen große Vögel über den
Ozean,
So unzählig im Zug, so hoch auf ihrer Bahn,
Dass Menschenaugen sie mit Mühe nur erfassen,
Bis sie am Horizont schon bald im Nebelhauch
Entschwinden, ohne dass sie Spuren hinterlassen…
So wie dereinst wir auch!
Michel Verne
2009
© Ralf Tauchmann
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