Das Lied über „Onkelchen
Nestor“ erzählt die Geschichte eines alt-kindischen Onkels, der die
Hochzeit von Jeannette durcheinanderwirbelt und durch einen festen Kniff in den
bräutlichen Hintern erst die weltliche Eheschließung und dann die kirchliche
Trauung stört und im Endeffekt vielleicht sogar vereitelt hat. Im Standesamt
dreht sich die Braut empört herum, sagt nicht »Ja!«, sondern schreit »Mama«
und ohrfeigt den Brautführer (der zum Glück ein Gesicht wie ein Feuermelder
hat), worauf der Standesbeamte zur Braut nur sagt: »Nein, mein Kleines, das ist jetzt wohl nicht der rechte Augenblick!«
In der Kirche gibt die Braut einem Chorknaben (der zum Glück Schnupfen hatte)
einen gehörigen »Nasentupfer« und
schreit statt ja zu sagen: »Scheiße!«…
Damit hat Nestor die Familie so enttäuscht, dass er bei der nächsten
Verheiratung von Jeannette ausgeladen bleibt!
Dans la famille Brassens. «
Tonton Nestor » n’a pas connu le succès d’un autre oncle prénommé Archibald. Et
pourtant, n’est-il pas savoureux, cet échappé du ” Chapeau de paille d’Italie ”
ou d’une autre comédie de Labiche ? Savoureux, truculent, porté sur le beau
sexe et la farce et attrapes ? Avouons que nous nourrissons une sympathie –
sans doute coupable – pour ce tonton
bien de chez nous et dont chaque famille française compte un exemplaire en son
sein. En nous contant l’histoire de cet adepte du pince-fesses, Brassens n’a
voulu brosser qu’une plaisante pochade. N’est-elle pas réussie ? Alors, c’est
le principal. « Ell’ souffleta, flic, flac – l'garçon d’honneur – Qui par
bonheur – avait une tête à claque ». Tout est sur ce ton. Cette chanson
vient au dessert.
René
Fallet
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René Fallet reiht »Tonton Nestor« in die weniger tiefgreifenden
Lieder ein, die eher ein Stück Boulevard- Theater darbieten und zum Dessert gehören.
»In der Brassens-Familie hat ‚Onkelchen
Nestor’ nicht den gleichen Erfolg gefunden wie jener andere Onkel mit dem Namen
Archibald. Und ist dieser Onkel nicht dennoch ein Leckerbissen, als wäre er
gerade dem „Italienischen Strohhut“ oder einer anderen Kömodie von Labiche
entsprungen? Ein köstlicher und urwüchsiger Kerl mit Hang zum schönen
Geschlecht, zur Posse und Heimtücke? Geben wir doch zu, dass wir heimlich eine
– wohl kaum unbescholtene – Zuneigung für diesen ach so typischen Onkel
empfinden, von dem wohl jede französische Familie ein Exemplar ihr eigen nennt.
Mit der Geschichte über diesen eifrigen Hinterngrabscher wollte Brassens nichts
weiter als eine burleske Szene skizzieren. Ist sie nicht gelungen? Und das ist ja wohl die Hauptsache! »Sie
ohrfeigte, klitsch-klatsch, den Brautführer, der zum Glück ein Gesicht zum
Dreinschlagen hatte…«
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Es ist wahr, dass das Lied über den senilen Nestor der
Familie trotz der äußerst formdichten Reimstruktur mit lockerem Ton und voller
Situationskomik so unbeschwert und heiter daherkommt, dass die
Hinterngrabscherei als eher schon verzeihliche Schwäche all ihren Schrecken
verliert. Onkelchen Nestor entpuppt sich im hohen kindischen Alter als
unbesserlicher Macho und im Alter kann man, wie allgemein bekannt, sich ja
alles erlauben... man ist jenseit von gut und böse.
Dieser Onkel hier hat offenbar
wenig von dem Nestor, der in
gediegener alter Sprache laut dem französischen Wörterbuch Le Grand Robert einen „wegen
seiner Erfahrung und seiner weisen Ratschläge respektierten alten Mann“
bezeichnet (Vieillard respecté pour son
expérience et la sagesse de ses avis.).
Und genau hier schleicht sich
langsam Zweifel ein. Warum wählt Nestor immer den Augenblick, in dem von der
Braut ein freudiges »Aber ja doch« (oui da !) erwartet wird? Warum reagiert
die Braut so überzogen? Warum ohrfeigt sie nicht Nestor selbst, sondern
vermutet den Kneifer woanders? Ja, warum hat der Brautführer ein
Ohrfeigengeschicht, denn ist nicht der Brautführer bzw. Trauzeuge gewöhnlich ein Vertrauter der
Braut bzw. des Bräutigams, zu dem man absolutes Vertrauen hat? Fragen über
Fragen…
Es ist natürlich müßig, sich bei
einem Dessert zu fragen, warum es so lecker schmeckt. Es reicht doch, dass es
lecker schmeckt. Die Wirkung ist doch das Wichtige. Und doch: Wer als Koch
dieses herrliche Dessert zu Hause nachkochen und seinen Gästen anbieten möchte,
wird nicht umhin kommen, sich Gedanken über die Ingredenzien zu machen. Anders
gesagt: Wer als Übersetzer (zum Beispiel deutscher Sprache) dieses französische
Lied in seiner Sprache servieren möchte, muss einen Blick auf die Zutaten
werfen. Und da offenbart sich plötzlich eine tiefe List und heimliche Tücke des
alten Nestors, der als alter Mann keinen Ruf mehr zu verlieren hat und dem man
nichts wirklich mehr anhaben kann.
Rein sprachlich gesehen, ist zu
erkennen, dass Brassens hier die literarische Vergangenheitsform, das passé simple, verwendet, die so nicht
mehr gesprochen wird und wodurch das Lied zu einem gesungenen Schrifttext wird.
Gleichzeitig offenbart sich dadurch auch ein tiefer Bruch, eine Kluft zwischen
der Hochsprache der Ich-Figur und dem
niederen Verhalten Onkel Nestors. Aus dem Mund der Ich-Figur kommt nicht eine
einzige saloppe oder gar obszöne Beschimpfung, nein: Onkel Nestor ist so etwas
wie ein »ungehobelter Klotz» oder »abgefeimter Flegel« oder »ausgemachter Rüpel« und: ein »homme du commun«, auch das ist veraltete
französische Sprache: Onkel Nestor ist ein »Mann
des gemeinen Volkes«.
Vor allem wenn man dann diese
wunderbaren drei Zeilen bedenkt und auf sich wirken lässt:
Je vous l’avoue :
Tonton, vous vous
Comportâtes comme un…
ist eigentlich kein Zweifel mehr
möglich: Das Ich dieses Liedes ist
nicht eigentlich Brassens, sondern ein deutlich lyrisches Ich, das sich als Angehöriger einer erhabenen Kaste dünkt und
dessen Duktus der Autor, d. h. der eigentliche Brassens, hier durch die
ständige Dopplung von Silben, insbesondere durch die Dopplung des Phonems
[vu:], als ein »Kläffen« charakterisiert: Je VOUS l’aVOUE, TON-TON, VOUS VOUS…
und auf dieses Bellen folgt unmittelbar ein hochliterarisches »comportâtes«…
eine Form, die im gesprochenen Französisch eigentlich so nicht über die Lippen
geht. Durch diesen Kunstgriff malt hier Brassens den köstlich-künstlichen
Dünkel der Ich-Figur.
Hat man im Lichte dieser ersten
und einleitenden Strophe erst einmal diesen Grundcharakter aufgenommen,
offenbaren alle nachfolgenden Strophen ihre Zweideutigkeit im
gesellschaftlichen Kontext. Es ist Zweifel angebracht: Die Braut hat die
Wimpern voller Tränen… Sind es wirklich Freudentränen? Und wie sie zum Ja-Wort anhebt,
kommt plötzlich Onkel Nestor ins Spiel, der ihr in den »Hintern« kneift… Halt! Die Ich-Figur sagt ja gar nicht Hintern (fesses, postérieur…), sondern sie sagt »éminence charnue« (wörtlich etwa: ihre fleischliche Exzellenz). Später sagt die Ich-Figur an analoger
Stelle »rotondité« (Rundlichkeit). Dies entspricht gar nicht
dem sonstigen üblichen Brassensschen Duktus, der vulgäre Wörter nicht
ausschließt… wenn Kontext und Liedinhalt dies erfordern. So drängt sich
insgesamt die Schlussfolgerung auf, dass für die Ich-Figur dieses Liedes
vulgäre Wörter überhaupt nicht in Frage kommen. Stattdessen pflegt das Ich dieses Liedes insgesamt eine äußerst
verhüllende Sprache und all das führt immer weiter und immer stärker zu der
Vermutung, dass hier eine ganz junge Braut von ihrer äußerst vornehmen Familie gegen
ihren Willen verheiratet werden soll. Wenn sich einmal dieser Verdacht beim
Hörer eingeschlichten hat, stellt sich umso mehr die Frage, warum Nestor gerade
im Augenglick des erwarteten Ja-Wortes seine ehrenrührige Tat begeht. Ist seine
augenscheinliche Altersmanie vielleicht nur vorgetäuschte Senilität, um seine
blutjunge Nichte vor einer Zwangsheirat zu retten. Sind die Tränen in den
Wimpern nicht eher Tränen der Wut und Verzweiflung? Warum ohrfeigt die Braut
jeweils zeremoniell beteiligte »Randpersonen«
und nicht den eigentlichen Hinterngrabscher? Und die letzte
Vers-Zäsur (die vorletzte Zeile des Liedes) »schreit«
doch geradezu nach einem unverhüllten:
Tonton, je vous... ( fous le poing sur la gueule !!!! )... aber nein, die Familie hält an sich:
Je vous le dis tout net.
Auch die Reaktion des
Standesbeamten spricht in dieser Hinsicht Bände. Die Braut schreit »Mama« und man muss sich in die
traditionell-bürgerlichen Ehe- und Familienstrukturen des 19. Jahrhunderts
zurückversetzen, um diesen Ruf als Anspielung auf die manchmal vor der
Eheschließung noch nicht sexuell aufgeklärte Tochter zu begreifen. Der
Standesbeamte (als Zeremonienwart der bürgerlichen Ehe) nennt sie mit einem eher
despektierlich-abfälligen Ton in männlicher Anrede: »mon petit« (etwa »mein
Kleines«). Und er sagt: »Nein, das
ist nicht der rechte Moment.« (auch übersetzbar als: »das gehört jetzt nicht hierher«). Ob die Eheschließung daraufhin
vollzogen wurde, lässt Brassens einfach offen. Er geht zur kirchlichen
(katholischen) Trauung über. In Frankreich ist bzw. war es Tradition, sowohl
standesamtlich als auch katholisch zu heiraten. Insofern könnte man sagen, dass
die weltliche Eheschließung trotz allem erfolgte und dann die kirchliche
Trauung folgte. Dennoch besteht die Möglichkeit einer Deutung dahingehend, dass
die alt-traditionelle Familie nach gescheiterter standesamtlicher Heirat
trotzdem zur kirchlichen Trauung schreitet, denn in katholischen Familien stand
und steht die kirchliche Trauung über der weltlichen. Sie ist verbindlicher als
die weltliche, denn sie geschieht vor Gott (»par devant l’Éternel«).
Aber wieder wird die Braut im
Moment des Ja-Wortes durch einen Kniff aus Onkel Nestors Händen gestört. Sie schlägt
einen Chorknaben und brüllt dem tonsurierten Geistlichen das Wort »Scheiße« ins Gesicht. Ist die Trauung
dann noch zustande gekommen? Schwer zu sagen. Eher wohl nicht, denn zur
nächsten Hochzeit von Jeannett wird Onkel Nestor wegen seines unrühmlichen
Betragens nicht mit eingeladen.
Andere Deutungen vermuten einen
Gedankenfehler im Sinne: Es kann eigentlich keine nächste Hochzeit von
Jeannette geben. Nun lässt sich aber ganz heimtückisch die »nächste Hochzeit« sehr wohl auch in dem
Falle deuten, dass die Hochzeit doch zu Ende gebracht wurde. Wenn eine
ehrwürdige Familie eine Tochter in guter Partie verheiratet hatte, dann nicht
selten mit einem viel älteren Mann, der die finanzielle Sicherheit mitbrachte
(wie in anderen Brassens-Liedern besungen, z. B. Comme une sœur, Le père-Noël
et la petite fille…) Und da in diesem Falle die Ehe so lange währt, »bis dass der Tod euch scheidet«, ist
eine erneute Heirat bzw. eine nochmalige »gute
Partie« nicht unbedingt ausgeschlossen.
Es mag müßig erscheinen, darüber
nachzudenken, ob die beiden Kniffe des Onkel Nestor einfache Senilität oder
eine hintersinnige Weisheitshandlung eines die Senilität nur vortäuschenden
Onkels sind, aber für die Übersetzung des Liedes war dies von enormer
Bedeutung. Bei Brassens macht immer die im Hintergrund schwebende
gesellschaftliche Komponente das Besondere der Lieder aus. Und immer sind es im
Kern eher einfache und naheliegende allgemeine Weisheiten, wie hier die
Unantastbarkeit des alten Menschen, der sich so ziemlich alles erlauben kann.
Auch die standesgemäße Heirat bzw. die »gute
Partie« (gern auch mit einem viel älteren Mann) gehört dazu.
Für die Übersetzung war es
wichtig, nicht etwa die hintersinnige Deutung »durchzuboxen« (das hieße, die
Interpretation zu übersetzen), sondern bei allen Formulierungen darauf zu
achten, dass immer auch der vorgenannte „Zweifel“, die oben genannte
„Deutbarkeit“ mit im Text ist; dass die Ich-Figur sprachlich überhöht auf die
geschilderte Geschichte herabschaut, dass der Hintern »nicht unter Niveau« bezeichnet wird, dass die Tränen sowohl
Freudestränen als auch Wuttränen sein können, dass der Standesbeamte die
Äußerung der Braut missversteht; und und und… Gerade dieses Lied besticht durch
den Widersatz, dass äußerlich die Geschichte eines unrühmlichen
Hinterngrabschers (pince-fesses)
erzählt wird, während im Hintergrund ein Sittenbild über die Stellung der Frau
in der altbürgerlichen Instutition der Ehe gezeichnet wird. Die unerfahrene
Tochter wird als Mittel zur Bereicherung des Familienvermögens eingesetzt. Sie
wird »an den Mann gebracht«, »unter die Haube gebracht«, man »heiratet ein«… auch die
deutsche Sprache ist voller Bezeichnungen für diese alt-traditionelle Spielform
der bürgerlichen (bzw. auch feudalen) Ehe. Und so endet meine deutsche Übertragung
nicht zufällig damit, dass Onkel Nestor bei der nächsten Trauung »nicht mit von der Partie« sein wird… Auch
das Wort „trauen“ in seinen vielen Spielarten durchzieht nicht zufällig das
ganze Lied (Vertrauen, zutrauen) bis hin zum Namen der Braut Edeltraut (Traudl).
Und damit zurück zu diesem Lied,
das laut René Fallet auf dem Speiseplan der Brassensschen Köstlichkeiten eher ins
Dessert gehört… und ein Dessert sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen...