DER  STARKE TOBAK  DES  MONSIEUR BRASSENS
Georges Brassens in deutsch -- übersetzt und gesungen von Ralf Tauchmann


TONTON NESTOR -- ONKEL NESTOR 
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Das Lied über „Onkelchen Nestor“ erzählt die Geschichte eines alt-kindischen Onkels, der die Hochzeit von Jeannette durcheinanderwirbelt und durch einen festen Kniff in den bräutlichen Hintern erst die weltliche Eheschließung und dann die kirchliche Trauung stört und im Endeffekt vielleicht sogar vereitelt hat. Im Standesamt dreht sich die Braut empört herum, sagt nicht »Ja!«, sondern schreit »Mama« und ohrfeigt den Brautführer (der zum Glück ein Gesicht wie ein Feuermelder hat), worauf der Standesbeamte zur Braut nur sagt: »Nein, mein Kleines, das ist jetzt wohl nicht der rechte Augenblick!« In der Kirche gibt die Braut einem Chorknaben (der zum Glück Schnupfen hatte) einen gehörigen »Nasentupfer« und schreit statt ja zu sagen: »Scheiße!«… Damit hat Nestor die Familie so enttäuscht, dass er bei der nächsten Verheiratung von Jeannette ausgeladen bleibt!

Dans la famille Brassens. « Tonton Nestor » n’a pas connu le succès d’un autre oncle prénommé Archibald. Et pourtant, n’est-il pas savoureux, cet échappé du ” Chapeau de paille d’Italie ” ou d’une autre comédie de Labiche ? Savoureux, truculent, porté sur le beau sexe et la farce et attrapes ? Avouons que nous nourrissons une sympathie – sans doute  coupable – pour ce tonton bien de chez nous et dont chaque famille française compte un exemplaire en son sein. En nous contant l’histoire de cet adepte du pince-fesses, Brassens n’a voulu brosser qu’une plaisante pochade. N’est-elle pas réussie ? Alors, c’est le principal. « Ell’ souffleta, flic, flac – l'garçon d’honneur – Qui par bonheur – avait une tête à claque ». Tout est sur ce ton. Cette chanson vient au dessert. 

                                                              René Fallet

René Fallet reiht »Tonton Nestor« in die weniger tiefgreifenden Lieder ein, die eher ein Stück Boulevard- Theater darbieten und zum Dessert gehören. »In der Brassens-Familie hat ‚Onkelchen Nestor’ nicht den gleichen Erfolg gefunden wie jener andere Onkel mit dem Namen Archibald. Und ist dieser Onkel nicht dennoch ein Leckerbissen, als wäre er gerade dem „Italienischen Strohhut“ oder einer anderen Kömodie von Labiche entsprungen? Ein köstlicher und urwüchsiger Kerl mit Hang zum schönen Geschlecht, zur Posse und Heimtücke? Geben wir doch zu, dass wir heimlich eine – wohl kaum unbescholtene – Zuneigung für diesen ach so typischen Onkel empfinden, von dem wohl jede französische Familie ein Exemplar ihr eigen nennt. Mit der Geschichte über diesen eifrigen Hinterngrabscher wollte Brassens nichts weiter als eine burleske Szene skizzieren. Ist sie nicht gelungen? Und das ist ja wohl die Hauptsache! »Sie ohrfeigte, klitsch-klatsch, den Brautführer, der zum Glück ein Gesicht zum Dreinschlagen hatte…«

Es ist wahr, dass das Lied über den senilen Nestor der Familie trotz der äußerst formdichten Reimstruktur mit lockerem Ton und voller Situationskomik so unbeschwert und heiter daherkommt, dass die Hinterngrabscherei als eher schon verzeihliche Schwäche all ihren Schrecken verliert. Onkelchen Nestor entpuppt sich im hohen kindischen Alter als unbesserlicher Macho und im Alter kann man, wie allgemein bekannt, sich ja alles erlauben... man ist jenseit von gut und böse.

Dieser Onkel hier hat offenbar wenig von dem Nestor, der in gediegener alter Sprache laut dem französischen Wörterbuch Le Grand Robert einen „wegen seiner Erfahrung und seiner weisen Ratschläge respektierten alten Mann“ bezeichnet (Vieillard respecté pour son expérience et la sagesse de ses avis.).

Und genau hier schleicht sich langsam Zweifel ein. Warum wählt Nestor immer den Augenblick, in dem von der Braut ein freudiges »Aber ja doch« (oui da !) erwartet wird? Warum reagiert die Braut so überzogen? Warum ohrfeigt sie nicht Nestor selbst, sondern vermutet den Kneifer woanders? Ja, warum hat der Brautführer ein Ohrfeigengeschicht, denn ist nicht der Brautführer bzw. Trauzeuge gewöhnlich ein Vertrauter der Braut bzw. des Bräutigams, zu dem man absolutes Vertrauen hat? Fragen über Fragen…

Es ist natürlich müßig, sich bei einem Dessert zu fragen, warum es so lecker schmeckt. Es reicht doch, dass es lecker schmeckt. Die Wirkung ist doch das Wichtige. Und doch: Wer als Koch dieses herrliche Dessert zu Hause nachkochen und seinen Gästen anbieten möchte, wird nicht umhin kommen, sich Gedanken über die Ingredenzien zu machen. Anders gesagt: Wer als Übersetzer (zum Beispiel deutscher Sprache) dieses französische Lied in seiner Sprache servieren möchte, muss einen Blick auf die Zutaten werfen. Und da offenbart sich plötzlich eine tiefe List und heimliche Tücke des alten Nestors, der als alter Mann keinen Ruf mehr zu verlieren hat und dem man nichts wirklich mehr anhaben kann.

Rein sprachlich gesehen, ist zu erkennen, dass Brassens hier die literarische Vergangenheitsform, das passé simple, verwendet, die so nicht mehr gesprochen wird und wodurch das Lied zu einem gesungenen Schrifttext wird. Gleichzeitig offenbart sich dadurch auch ein tiefer Bruch, eine Kluft zwischen der Hochsprache der Ich-Figur und dem niederen Verhalten Onkel Nestors. Aus dem Mund der Ich-Figur kommt nicht eine einzige saloppe oder gar obszöne Beschimpfung, nein: Onkel Nestor ist so etwas wie ein »ungehobelter Klotz» oder »abgefeimter Flegel« oder »ausgemachter Rüpel« und: ein »homme du commun«, auch das ist veraltete französische Sprache: Onkel Nestor ist ein »Mann des gemeinen Volkes«.

 Vor allem wenn man dann diese wunderbaren drei Zeilen bedenkt und auf sich wirken lässt:

 Je vous l’avoue :
Tonton, vous vous
Comportâtes comme un…

ist eigentlich kein Zweifel mehr möglich: Das Ich dieses Liedes ist nicht eigentlich Brassens, sondern ein deutlich lyrisches Ich, das sich als Angehöriger einer erhabenen Kaste dünkt und dessen Duktus der Autor, d. h. der eigentliche Brassens, hier durch die ständige Dopplung von Silben, insbesondere durch die Dopplung des Phonems [vu:], als ein »Kläffen« charakterisiert: Je VOUS l’aVOUE, TON-TON, VOUS VOUS… und auf dieses Bellen folgt unmittelbar ein hochliterarisches »comportâtes«… eine Form, die im gesprochenen Französisch eigentlich so nicht über die Lippen geht. Durch diesen Kunstgriff malt hier Brassens den köstlich-künstlichen Dünkel der Ich-Figur.

Hat man im Lichte dieser ersten und einleitenden Strophe erst einmal diesen Grundcharakter aufgenommen, offenbaren alle nachfolgenden Strophen ihre Zweideutigkeit im gesellschaftlichen Kontext. Es ist Zweifel angebracht: Die Braut hat die Wimpern voller Tränen… Sind es wirklich Freudentränen? Und wie sie zum Ja-Wort anhebt, kommt plötzlich Onkel Nestor ins Spiel, der ihr in den »Hintern« kneift… Halt! Die Ich-Figur sagt ja gar nicht Hintern (fesses, postérieur…), sondern sie sagt »éminence charnue« (wörtlich etwa: ihre fleischliche Exzellenz). Später sagt die Ich-Figur an analoger Stelle »rotondité« (Rundlichkeit). Dies entspricht gar nicht dem sonstigen üblichen Brassensschen Duktus, der vulgäre Wörter nicht ausschließt… wenn Kontext und Liedinhalt dies erfordern. So drängt sich insgesamt die Schlussfolgerung auf, dass für die Ich-Figur dieses Liedes vulgäre Wörter überhaupt nicht in Frage kommen. Stattdessen pflegt das Ich dieses Liedes insgesamt eine äußerst verhüllende Sprache und all das führt immer weiter und immer stärker zu der Vermutung, dass hier eine ganz junge Braut von ihrer äußerst vornehmen Familie gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Wenn sich einmal dieser Verdacht beim Hörer eingeschlichten hat, stellt sich umso mehr die Frage, warum Nestor gerade im Augenglick des erwarteten Ja-Wortes seine ehrenrührige Tat begeht. Ist seine augenscheinliche Altersmanie vielleicht nur vorgetäuschte Senilität, um seine blutjunge Nichte vor einer Zwangsheirat zu retten. Sind die Tränen in den Wimpern nicht eher Tränen der Wut und Verzweiflung? Warum ohrfeigt die Braut jeweils zeremoniell beteiligte »Randpersonen« und nicht den eigentlichen Hinterngrabscher? Und die letzte Vers-Zäsur (die vorletzte Zeile des Liedes) »schreit« doch geradezu nach einem unverhüllten:

         Tonton, je vous...                       ( fous le poing sur la gueule !!!! )...  aber nein, die Familie hält an sich:
         Je vous le dis tout net.

Auch die Reaktion des Standesbeamten spricht in dieser Hinsicht Bände. Die Braut schreit »Mama« und man muss sich in die traditionell-bürgerlichen Ehe- und Familienstrukturen des 19. Jahrhunderts zurückversetzen, um diesen Ruf als Anspielung auf die manchmal vor der Eheschließung noch nicht sexuell aufgeklärte Tochter zu begreifen. Der Standesbeamte (als Zeremonienwart der bürgerlichen Ehe) nennt sie mit einem eher despektierlich-abfälligen Ton in männlicher Anrede: »mon petit« (etwa »mein Kleines«). Und er sagt: »Nein, das ist nicht der rechte Moment.« (auch übersetzbar als: »das gehört jetzt nicht hierher«). Ob die Eheschließung daraufhin vollzogen wurde, lässt Brassens einfach offen. Er geht zur kirchlichen (katholischen) Trauung über. In Frankreich ist bzw. war es Tradition, sowohl standesamtlich als auch katholisch zu heiraten. Insofern könnte man sagen, dass die weltliche Eheschließung trotz allem erfolgte und dann die kirchliche Trauung folgte. Dennoch besteht die Möglichkeit einer Deutung dahingehend, dass die alt-traditionelle Familie nach gescheiterter standesamtlicher Heirat trotzdem zur kirchlichen Trauung schreitet, denn in katholischen Familien stand und steht die kirchliche Trauung über der weltlichen. Sie ist verbindlicher als die weltliche, denn sie geschieht vor Gott (»par devant l’Éternel«).

Aber wieder wird die Braut im Moment des Ja-Wortes durch einen Kniff aus Onkel Nestors Händen gestört. Sie schlägt einen Chorknaben und brüllt dem tonsurierten Geistlichen das Wort »Scheiße« ins Gesicht. Ist die Trauung dann noch zustande gekommen? Schwer zu sagen. Eher wohl nicht, denn zur nächsten Hochzeit von Jeannett wird Onkel Nestor wegen seines unrühmlichen Betragens nicht mit eingeladen.

Andere Deutungen vermuten einen Gedankenfehler im Sinne: Es kann eigentlich keine nächste Hochzeit von Jeannette geben. Nun lässt sich aber ganz heimtückisch die »nächste Hochzeit« sehr wohl auch in dem Falle deuten, dass die Hochzeit doch zu Ende gebracht wurde. Wenn eine ehrwürdige Familie eine Tochter in guter Partie verheiratet hatte, dann nicht selten mit einem viel älteren Mann, der die finanzielle Sicherheit mitbrachte (wie in anderen Brassens-Liedern besungen, z. B. Comme une sœur, Le père-Noël et la petite fille…) Und da in diesem Falle die Ehe so lange währt, »bis dass der Tod euch scheidet«, ist eine erneute Heirat bzw. eine nochmalige »gute Partie« nicht unbedingt ausgeschlossen.

Es mag müßig erscheinen, darüber nachzudenken, ob die beiden Kniffe des Onkel Nestor einfache Senilität oder eine hintersinnige Weisheitshandlung eines die Senilität nur vortäuschenden Onkels sind, aber für die Übersetzung des Liedes war dies von enormer Bedeutung. Bei Brassens macht immer die im Hintergrund schwebende gesellschaftliche Komponente das Besondere der Lieder aus. Und immer sind es im Kern eher einfache und naheliegende allgemeine Weisheiten, wie hier die Unantastbarkeit des alten Menschen, der sich so ziemlich alles erlauben kann. Auch die standesgemäße Heirat bzw. die »gute Partie« (gern auch mit einem viel älteren Mann) gehört dazu.

Für die Übersetzung war es wichtig, nicht etwa die hintersinnige Deutung »durchzuboxen« (das hieße, die Interpretation zu übersetzen), sondern bei allen Formulierungen darauf zu achten, dass immer auch der vorgenannte „Zweifel“, die oben genannte „Deutbarkeit“ mit im Text ist; dass die Ich-Figur sprachlich überhöht auf die geschilderte Geschichte herabschaut, dass der Hintern »nicht unter Niveau« bezeichnet wird, dass die Tränen sowohl Freudestränen als auch Wuttränen sein können, dass der Standesbeamte die Äußerung der Braut missversteht; und und und… Gerade dieses Lied besticht durch den Widersatz, dass äußerlich die Geschichte eines unrühmlichen Hinterngrabschers (pince-fesses) erzählt wird, während im Hintergrund ein Sittenbild über die Stellung der Frau in der altbürgerlichen Instutition der Ehe gezeichnet wird. Die unerfahrene Tochter wird als Mittel zur Bereicherung des Familienvermögens eingesetzt. Sie wird »an den Mann gebracht«, »unter die Haube gebracht«, man »heiratet ein«… auch die deutsche Sprache ist voller Bezeichnungen für diese alt-traditionelle Spielform der bürgerlichen (bzw. auch feudalen) Ehe. Und so endet meine deutsche Übertragung nicht zufällig damit, dass Onkel Nestor bei der nächsten Trauung »nicht mit von der Partie« sein wird… Auch das Wort „trauen“ in seinen vielen Spielarten durchzieht nicht zufällig das ganze Lied (Vertrauen, zutrauen) bis hin zum Namen der Braut Edeltraut (Traudl).

Und damit zurück zu diesem Lied, das laut René Fallet auf dem Speiseplan der Brassensschen Köstlichkeiten eher ins Dessert gehört… und ein Dessert sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen...

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