DER  STARKE TOBAK  DES  MONSIEUR BRASSENS
Georges Brassens in deutsch -- übersetzt und gesungen von Ralf Tauchmann



PRESSE

BRASSENS

FESTIVAL

IMPRESSUM



Wörter hinter den Wörtern

Wenn die Form Sinn erlangt --
Um- und Abwege der Lyrikübertragung

VORTRAG
gehalten im Rahmen der Sommerakademie  des Bundesverbands der Dolmetscher und Übersetzer (BdÜ)
am 21. September 2002  in Berlin
 

0. EINLEITUNG

Dass Gedichte im eigentlichen Sinne unübersetzbar sind und der Grund dafür in der FORM zu suchen ist, sei erinnernd vorausgeschickt. Allerdings ist Sprache immer an Form gebunden, sei es in der täglichen Rede oder in hochtechnischen Fachtexten. Genauer gesagt, liegen die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von Gedichten in dem Teil der Formkomponente begründet, der mehr oder weniger bewusst gebraucht ist. Wie das im Detail aussieht, ist an Beispielen besser zu zeigen:

1. GUILLAUME APOLLINAIRE -- Problemdarstellung

Beginnen möchte ich mit Guillaume Apollinaire, mit dem Gedicht LA TZIGANE aus dem Gedichtband ALCOOLS, wo es in der ersten Strophe heißt:

La tzigane savait d'avance
Nos deux vies barrées par les nuits
Nous lui dîmes adieu et puis
De ce puits sortit l'Espérance
Die Zigeunerin wusste im Voraus
Unser beider Leben von den Nächten durchkreuzt
Wir sagten ihr Lebwohl und dann
Entstieg diesem Brunnen die Hoffnung

Wenn dieses Gedicht uns auch geschrieben überkommen ist, dürfen wir nicht aus dem Auge bzw. besser: Ohr verlieren, dass Sprache von Sprechen kommt, im Französischen als langue direkt von Zunge. Die gesprochene Sprache ist primär gegenüber der geschriebenen Sprache und als solche unreformierbar. Nur die Orthografie kann reformiert werden, möglichst entsprechend den mündlichen Gegebenheiten (wo die neueste deutsche Reform in ein paar Punkten ganz unrühmlich abschneidet).

Der Gedichtband ALCOOLS von Apollinaire ist bahnbrechend, da Apollinaire gegenüber der klassischen Poesie systematisch das e muet, das »stumme e«, in vokalischer Umgebung metrisch auch als stumm behandelt (sonst wäre Vers 2 ein Zehnsilber und kein Achtsilber). Vergessen wir also die Schriftsprache und vertrauen wir auf die Lautlichkeit:


La tzigane savait d'avance
Nos DEUX VIES barréEs par les nuits
Nous lui dîmes ADIEU et PUIS
De ce PUITS sortit l'Espérance
La tzigane savait d'avance
Nos DEVIS barrés par les nuits
Nous lui dîmes À / AH DIEU et PUIS
De ce PUIS sortit l'Espérance

Damit kommt ein orakelhafter Unterton in die Weissagung der lebenserfahrenen Zigeunerin, denn es schwebt eine zweite Stimme im Hintergrund:

La tzigane savait d'avance
Nos devis barrés par les nuits
Nous lui dîmes à / ah Dieu et puis
De ce puis sortit l'Espérance
Die Zigeunerin wusste im Voraus,
Dass unsere Kostenvoranschläge von den Nächten gestrichen würden
Wir sagten ihr  »Auf Gott !« und dann
Entstieg diesem Dann die Hoffnung…

Dass im Verb sortit auch noch das Schicksal (sort) durchschwingt, sei als »zu tief in der Sprache verankert« vernachlässigt, trägt aber auch zum Gesamtgestus dieser vier Zeilen bei.

Wichtig ist dabei, dass das eine und andere nicht nebeneinander stehen, sondern ineinander verwoben sind. Die erste Lesart als direkte Bedeutungsebene ist die von Apollinaire gewählte Schreibweise. Die hintergründige zweite Stimme ist insofern nicht Bedeutung, sondern Deutung, aber: sprachgebundene Deutung, also die untere Deutungsebene, die direkt aus der Sprache ableitbare Deutung -- noch ohne Wertung. Diese führt dann weiter zur eigentlichen, übergreifenden INTERPRETATION vom Sprachlichen wieder weg zurück zur Wirklichkeit.

Um beim Beispiel zu bleiben: 

DEUTUNG: Das Zusammenlegen von zwei Leben (nos deux vies) hat etwas von einem gemeinsamen Kostenvoranschlag (nos devis). Gleichzeitig steht dem innerlich-ideellen Anliegen der Zweisamkeit (deux vies) der Kostenvoranschlag (devis) als äußerlich-materieller Gegenpol gegenüber. Der Hoffnungsbrunnen ist identisch mit dem Dann, d.h. mit der Nachzeitigkeit.

INTERPRETATION: Die zitierte Strophe blickt ernüchtert aus dem Heute in die Vergangenheit, als dieses Heute noch Zukunft, Erwartung und zweifelnde Hoffnung war. Eine gute Übersetzung müsste hier sprachliche Mittel und Wege finden, um hoffnungsvoll-zweifelnde Perspektive und ernüchterte Retrospektive analog zu verdichten und miteinander zu verquicken.

Apollinaire berichtet von seiner ersten tieferen Begegnung mit der französischen Sprache.
Folgenden Satz mit dem eher seltenen Passé simple:

Ayant tout dit, l'orateur se tut. (Als/nachdem er alles gesagt hatte, schwieg der Redner.)
verstand Apollinaire im Präsens:
Ayant tout dit, l'orateur se tue. (Wenn/nachdem er alles gesagt hat, bringt der Redner sich um.)
Auch vom Sinn her war Apollinaire ganz von der Richtigkeit seines Verständnisses überzeugt:
Wenn erst einmal alles gesagt ist, hat der Redner seine Existenzberechtigung verloren!

Ursache ist der stark homophone und dabei silbige Charakter der französischen Sprache, wo gleiche Laute mit unterschiedlicher Bedeutung sehr häufig auftreten, z.B.:
vert – vair – verre – vers (adj.) – vers (subst.) – ver
seau – sot – sceau – saut
was durch Kombination in lautlichen Ketten ein noch wesentlich komplexeres Bild ergibt:
revers, s'avère, sévère ....
vaisseau, Tussot, grosso ...
Ausgenutzt zum Beispiel in folgenden beiden Zeilen des Gedichtes MARIE, wo Apollinaire als inhaltlich-musikalische Stimme ein ständiges SI (so bzw. und doch) einlegt:
Les masques sont silencieux
Et la musique est si lointaine…
Schön auch die silbigen Anlehnungen: masques – musiques ; silen... – si loin...
Und schön auch, wie das einzige stimmhafte si in musique »aus der Reihe tanzt« und den Klang der Musik lautlich unterstreicht...

Ein weiteres Beispiel: Das Gedicht ZONE von Apollinaire, erstes Gedicht im Gedichtband ALCOOLS, endet mit dem berühmten Vers:

Adieu adieu
Soleil cou coupé
Erneut erwächst aus der Form Sinn: Durch den Abschied (Fin-de-Siècle), durch das Lebewohl des wie abgeschlagen anmutenden Kopfes der ihr Blut rot über den Himmel ergießenden, noch über den Horizont schauenden Sonne schimmert eine Begrüßung, ein Hallo, ein coucou, ein neuer Anfang... Phonetisch-dynamisch wird erst mit der letzten Silbe eine relative Eindeutigkeit erzielt, bis dahin bleibt die Aussage in der Schwebe:
A Dieu, à Dieu,
Soleil coucou
Eine mir vor Jahren in einer Zeitung aufgestoßene Ad-hoc-Übertragung gab den letzten Vers strukturell-imitativ wieder mit:
Sonne abgeschnittener Hals
Hier schauen wir auf einen zweiten Wesenszug der französischen Sprache: Im Französischen wird nach hinten intoniert und nach hinten nuanciert, zu sehen an verschiedenen Erscheinungen:
  • bei der Intonation (Satzmelodie): das Verlagern der Verneinung nach hinten bei Verschwinden des eigentlichen Verneinungswortes ne(J’ai vu personne, j’sais pas...);
  • bei der inhaltlichen Nuancierung: Adjektive stehen meist und Attribute stets nach dem Substantiv;
  • das Grundwort von Zusammensetzungen steht vor dem Bestimmungswort – ziemlich exakt im direkten Gegensatz zum Deutschen (z.B. mur de soutènement – Stützmauer)
Gleiches gilt auch für die lockere Verknüpfung der Apposition. Aus übersetzerischer Sicht würde ich im genannten Beispiel im Deutschen persönlich eine Voranstellung vorziehen:

Adieu adieu
Soleil cou coupé
Leb wohl, leb wohl,
Halsdurchtrennte Sonne!


Oder eine Zusammensetzung, was dem lockeren Bezug der Apposition noch besser entspräche:
Adieu adieu
Soleil cou coupé
Leb wohl, leb wohl,
Kopf-ab-Sonne!

Maßstab für eine wirkliche gelungene Übertragung dieser beiden Verse wäre: Blutroter ABSCHIED mit durchschimmernder BEGRÜSSUNG (also erneut eine Verquickung von Gegensätzen). Wenn im LEBEWOHL (adieu) auch noch GOTT durchschimmern würde, wäre eine solche Übertragung wohl perfekt. Deutlicher wird der attributive Charakter der Apposition noch im Gedicht MARIE und hier ist eine Voranstellung so gut wie unverzichtbar, um der deutsche Sprache in ihrem natürlichen Fluss zur Geltung zur verhelfen:

Sais-je où s'en iront tes cheveux
Et tes mains feuilles de l'automne...
Was weiß ich, wohin deine Haare (ver)gehen
Und deine herbstblattgleichen / herbstdurchlaubten Hände...

2. GEORGES BRASSENS -- Ein Lösungsansatz

Kommen wir zu Georges Brassens. Im Gegensatz zu Apollinaire, der sich bewusst war, dass seine Gedichte einem Leser in Schriftform vorliegen würden (bis hin zu den Calligrammen), sind Georges Brassens’ Liedtexte von vornherein an einen Hörer gerichtet (sodass sie beinahe nicht des Aufschreibens bedürfen). Durch die Erfindung von Grammophon und Schallplatte bis zur heutigen CD ist der Tonträger so nachhörbar wie ein Buch nachlesbar.

Ausgewählt habe ich das Chanson COMME UNE SŒUR – unter anderem auch weil es zu den weniger inhaltsschweren Liedern von Georges Brassens gehört und uns nicht zu sehr ins Inhaltliche ablenkt. Brassens greift hier eine volksliedhafte Lyrik auf: das CHANSON DU MAL AIMÉ (das Lied von unglücklicher Liebe). »Immer das gleiche Lied!« könnte man meinen. Das stimmt schon! Und doch... Schauen wir uns die ersten vier Strophen an:

 
COMME UNE SŒUR

WIE EINE SCHWESTER (Inhaltsangabe)
Comme une sœur, tête coupée,
Ell’ ressemblait à sa poupée.
Dans la rivière, elle est venue
Tremper un peu son pied menu.

Wie eine Schwester, Kopf abgetrennt,
Sah sie ihrer Puppe ähnlich.
Sie ist in den Fluss gekommen,
Ihren zarten Fuß ein wenig zu benetzen.
Par une ruse à ma façon,
Je fais semblant d’être un poisson.
Je me déguise en cachalot
Et je me couche au fond de l’eau.

Durch eine List nach meiner Art
Tu ich so, als ob ich ein Fisch wäre.
Ich verkleide mich als Pottwal
Und lege mich ich auf den Grund des Wassers.
J’ai le bonheur, grâce à ce biais,
De lui croquer un bout de pied.
Jamais requin n’a, j’en réponds,
Jamais rien goûté d’aussi bon.

Ich hab dank dieses Umwegs/Tricks das Glück
Ihr ein Stück Fuß an/wegzuknabbern.
Niemals hat ein Hai(fisch), ich bürge dafür,
Niemals etwas so Gutes/Schmackhaftes gekostet.
Ell’ m’a puni de ce culot
En me tenant le bec dans l’eau.
Et j’ai dû pour l’apitoyer
Faire mine de me noyer.

Sie hat mich für diese Dreistigkeit bestraft,
Indem sie mir den Schnabel ins Wasser hielt
(indem sie mich am ausgestreckten Arm verhungern ließ)
Und ich habe, um ihr Mitleid zu gewinnen,
Vortäuschen müssen, dass ich ertrinke.

Obwohl es im folgenden in erster Linie um die Form gehen soll, sei eine inhaltliche Frage vorausgeschickt:

Comme une sœur, tête coupée,
Ell’ ressemblait à sa poupée.
Dans la rivière, elle est venue
Tremper un peu son pied menu. 
In der ersten Strophe interessant ist das »Auftauchen« des abgeschnittenen Kopfes. Ich erinnere nochmals an die Lautlichkeit und Dynamik der Sprache. Der erste Vers Comme une sœur tête coupée... fällt sozusagen aus dem »Nichts« dem Hörer ins Ohr. Die brutale Assoziation des abgetrennten Kopfes klärt sich im gesamten Chanson nicht mehr auf. Auch die zweite Zeile bringt diesbezüglich keine Besserung. Auf jeden Fall ergibt sich eine begriffliche Reihung: Schwester – Kopf (kopflos) – Puppe; inhaltlich spielt Brassens hier mit der Wendung ressembler comme un frère à qqn (jmdm wie ein Bruder ähneln). Von der Interpretation her ist die erste Strophe mit Blick auf die nachfolgenden Strophen relativ eindeutig: Wie man als Kompliment sagt: »Das soll Ihre Tochter sein? Geben Sie zu, das ist Ihre Schwester...« wird hier dieses Bild der Mutter als Schwester der Tochter auf Mädchen als Schwester der Puppe umgemünzt. Der abgetrennte Kopf könnte insofern darauf schließen lassen, dass die Puppe »ausgedient« hat (hier wäre ein Rückgriff auf die deutsche nicht ganz eindeutige Formulierung ähnlich bis auf den Kopf möglich). Sprachlich gesehen, könnte hier die Wendung donner sa tête à couper (si...) im Hintergrund stehen, also: ich lass mir den Kopf abschlagen, wenn sie und ihre Puppe nicht wie Schwestern aussehen... allerdings abgewandelt als Rückblick auf das Endergebnis: und den Kopf hatte ich dann tatsächlich eingebüßt...

Wie dem auch sei, als Übersetzer wollen wir uns hier nicht festlegen, um nicht unsere Interpretation in den Vordergrund zu rücken. Behalten wir also den tête coupée im Hinterkopf. Gehen wir erst einmal wieder weg vom Direkt-Inhaltlichen hin zur Form. Metrik und Reim sollen dabei als »übliche« Formelemente weniger interessieren, sondern die für dieses Chanson wesentlichen Formquellen:

Comme une sœur, tête coupée,
Ell’ ressemblait à sa poupée.
Dans la rivière, elle est venue
Tremper un peu son pied menu.

Par une ruseà ma façon,
Je fais semblant d’être un poisson.
Je me déguise en cachalot
Et je me couche au fond de l’eau.

J’ai le bonheur, grâce à ce biais,
De lui croquerun bout de pied.
Jamais requin n’a, j’en réponds,
Jamais rien goûté d’aussi bon.

Ell’ m’a puni de ce culot
En me tenant le bec dans l’eau.
Et j’ai dû pour l’apitoyer
Faire mine de me noyer.

SPRACHSTRUKTURELLE ANSPIELUNG:
Die erste Strophe endet mit einem pied menu. Das mag in erster Linie sicher als schmaler, feiner Fuß aufzufassen sein, aber über die Reihung PIED MENU -- RUSE -- CROQUER UN BOUT DE PIED kommt hintergründig eine Apposition pied-menu ins Spiel, ein Fuß à la Carte, ein – wenn man die Bedeutung und Deutung zusammennimmt: feines Fußmenü bzw. feiner Menüfuß.Und so erlangt das Wort ruse zu Beginn der zweiten Strophe hintergründig eine zutiefst sprachsystematische Bedeutung.

Tremper dans la rivière in der erste Strophe spielt auf die Wendung tremper dans une affaire (in eine Sache verwickelt sein, bei etwas „mitmischen“) an. Erst die letzten vier Silben machen tremper transitiv und heben diese Zweideutigkeit auf.

PHONETISCHE ANSPIELUNGEN:
2. Strophe: cachalot --> cache-à-l’eau (mit couche und l'eau)
4. Strophe: culot; bedeutet nicht nur Dreistigkeit, sondern IST Dreistigkeit durch Reihung bec --> cul --> l’eau

POLYSEME ANSPIELUNG
3. Strophe: grâce (prép.) --> grâce (subst.) : Grazie, Anmut

Ich muss an dieser Stelle betonen, dass es mir hier ausschließlich um das geht, was im Text »mitschwingt«, also um das, was über die eigentlich inhaltliche Komponente hinausgeht: um die direkt-sprachlich gebundene Deutungsebene. Wichtig ist noch einmal das Primat der gesprochenen Sprache. Diese ist zeitlich-dynamisch gegenüber der räumlich-statischen Beschaffenheit der geschriebenen Sprache. Wenn in der Lyrik ein Satz erst mit dem letzten Wort eine inhaltliche Auflösung bringt, sind alle zuvor ausgelösten potenziellen Bedeutungen fester Bestandteil der Aussage, weil bei jedem neuen mündlichen Veräußern der Satz immer wieder in der Schwebe bleibt, solange er nicht beendet ist.

Eine weitere für Brassens typische formal-inhaltliche Verwendung sei hier noch erwähnt:

Ell’ m’a puni de ce culot
En me tenant le bec dans l’eau.
Et j’ai dû pour l’apitoyer
Faire mine de me noyer. 
MOTIVATIONSBEDEUTUNG ALS FORMKOMPONENTE
Tenir le bec dans l’eau als übertragene Wendung (jemanden auf Abstand halten, sich vom Leibe halten, am ausgestreckten Arm verhungern lassen) bringt ein ganz besonderes Formproblem: Bei phraseologischen Wendungen ist die so genannte aktuelle Bedeutung (inhaltliche Bedeutung) nicht gleich der Summe der der durch die Einzelwörter konkret ausgedrückten Inhalte (Motivationsbedeutung). Brassens verwendet die Wendung inhaltlich (sie hielt mich auf Abstand), führt aber die erzählte Begebenheit mit der Motivationsbedeutung (also der FORM!) weiter.

Vor Eingehen auf den Übersetzungsprozess, hier kurz ein Resümee der Ansprüche:
1. Erstes Ziel ist eine ÜBERSETZUNG der erzählten Geschichte, also nach dem Inhalt
2. Aber unter Wahrung der poetischen Form, also ÜBERTRAGUNG als Gedicht (Reime usw.)
3. Und unter Einbeziehung der sprachlichen Formbesonderheiten, also ÜBERTRAGUNG nach dem Sinn;
    hier für Brassens im Wesentlichen:
    (a) phonetische Anspielungen (im Deutschen schwierig, da Sprache weniger homophon)
    (b) strukturelle Anspielungen
    (c) phraselogische Wendungen

In einer ersten Variante war das Ergebnis noch relativ unbefriedigend:

COMME UNE SŒUR

MIT IHREM KURZEN KNAPPEN HAAR
Comme une sœur, tête coupée,
Ell’ ressemblait à sa poupée.
Dans la rivière, elle est venue
Tremper un peu son pied menu.

Mit ihrem kurzen knappen Haar  (Knappenhaar)
Sie ihrer Puppe ähnlich war.
Sie wagte mit dem schmalen Fuß
Vom Ufer den Schritt in den Fluss.
Par une ruse à ma façon,
Je fais semblant d’être un poisson.
Je me déguise en cachalot
Et je me couche au fond de l’eau.

So listenreich, wie ich halt bin,  (Solist ???)
Schleich ich als Fisch zum Wasser hin,
Hab mich als Pottwal ausgestreckt
Und auf des Flusses Grund versteckt.
J’ai le bonheur, grâce à ce biais,
De lui croquer un bout de pied.
Jamais requin n’a, j’en réponds,
Jamais rien goûté d’aussi bon.

Durch diesen Trick hab ich das Glück
Und nasch vom Fuß ein feines Stück.
So einen guten Bissen hat
Fürwahr kein Haifisch je gehabt.
Ell’ m’a puni de ce culot
En me tenant le bec dans l’eau.
Et j’ai dû pour l’apitoyer
Faire mine de me noyer.

Zur Strafe für den frechen Spaß,
Tunkt sie den Schnabel mir ins Nass.
Und ich seh zu, dass ich ertrink,
Damit ich ihr Mitleid erring.

Diese erste Übertragung bleibt oberflächlich relativ nah am Text, auch die poetische Form der Strophen- und Reimstruktur ist gewahrt... und doch ist ganz stark zu empfinden, dass hier etwas fehlt – nämlich all diese im Zuge der Formulierung aufkeimenden und wieder untergehenden Andeutungen und Anspielungen. Die deutbare Apposition pied-menu hat keinerlei formal-stilistisches Pendant im Deutschen, dadurch wird die ruse, die List am Anfang der zweiten Strophe, zu einem sprachlich belanglosen Blabla, denn im Deutschen ist sprachlich hier keine List vorhanden. Auch die Wendung tenir le bec dans l’eau ist nur eindimensional oberflächlich wiedergegeben. Kurzum: Das Chanson war wohl übersetzt, aber es fehlt genau das, was Brassens auszeichnet: der »hinter den Wörtern« schwingende Wortwitz, diese »heimlichen« Bezüge zwischen den Wörtern... Mit dem »kurzen Knappenhaar« im ersten Vers war das Gewünschte zwar im Ansatz vorhanden, aber ohne inhaltliche Bezugnahme zum Original, denn die deutsche Übersetzung bringt hier in Abweichung vom Französischen das Bild eines Knaben ins Spiel. Und schlimmer noch: Der erste Vers der zweiten Strophe lässt in so listenreich das Wort Solisten anklingen. Diese Anspielung ist völlig ohne Sinn und verkehrt sogar den stilistisch-poetischen Ansatz von Georges Brassens in sein Gegenteil. Fast wäre mir hier ungewollt eine Persiflage gelungen...

Da der gezeigte direkte Weg im Ergebnis unbefriedigend war, begann ich nach anderen Wegen zu suchen bzw., um der Wahrheit ihr Recht zu geben, war es weniger eine Suche, sondern ich begann Umwege, ja auch Abwege zuzulassen.

Dazu muss ich jetzt unbedingt der bislang gezeigten GEDICHTFORM die konkrete LIEDFORM an die Seite stellen: Brassens hat eine kunstvolle Art der Dopplung von Halbversen einkomponiert und zwar je Strophe für die erste, zweite und vierte Zeile. Diese Echo-Struktur habe ich mir im Deutschen zunutze gemacht, um aus dieser strukturellen Besonderheit phonetische Anspielungen zuzulassen.

COMME UNE SŒUR

SO ALS OB
Comme une sœur, tête coupée
    Tête coupée
Ell’ ressemblait à sa poupée
    A sa poupée
Dans la rivière, elle est venue
Tremper un peu son pied menu.
    Son pied menu.

So als ob sie – Kopf hin, Kopf her –
    Kopf hin, Kopf her
Die Schwester ihrer Puppe wär’,
    ’rer Puppe wär
Tunkte sie ihren zarten Fuß
Ein ganz klein wenig in den Fluss.
    ’nig in den Fluss
Par une ruse à ma façon,
    A ma façon
Je fais semblant d’être un poisson.
    D’être un poisson
Je me déguise en cachalot
Et je me couche au fond de l’eau.
    Au fond de l’eau

Durch eine List nach meinem Sinn
    Nach meinem Sinn
Schleich ich als Fisch zum Wasser hin,
    Zum Wasser hin
Streck mich am Grund aus wie ein Wels
Und laure reglos wie ein Fels.
    Los wie ein Fels
J’ai le bonheur, grâce à ce biais,
    Grâce à ce biais
De lui croquer un bout de pied.
    Un bout de pied
Jamais requin n’a, j’en réponds,
Jamais rien goûté d’aussi bon.
    Rien d’aussi bon

Durch diesen Trick hab ich das Glück
    Hab ich das Glück
Und nasch vom Fuß ein feines Stück.
    Ein feines Stück
So einen guten Bissen hat,
Mein Wort, kein Haifisch je gehappt!
    Fisch je gehappt
Ell’ m’a puni de ce culot
    De ce culot
En me tenant le bec dans l’eau.
    Le bec dans l’eau
Et j’ai dû pour l’apitoyer
Faire mine de me noyer.
    De me noyer

Zur Strafe für den alten Zopf
    Den alten Zopf
Wäscht sie mir gehörig den Kopf.
    Hörig den Kopf
Und ich muss tun, dass ich ertrink’,
Damit ihr Mitleid ich erring'.
    Leid ich erring’

Ein paar Anmerkungen dazu:

1. Strophe:

  • Die Übertragung von tête coupée mit Kopf hin, Kopf her ist AUCH das Eingeständnis des Übersetzers, dass er hier das Original nicht so recht zu deuten weiß bzw. nicht deuten möchte – also Transparenz im Zweisprachigen im Gegensatz zur ersten Variante, wo das Problem durch einseitige Entscheidung einfach vertuscht war. Vom Französischen abgesehen, hat Kopf hin Kopf her  im Deutschen mit zwei bis drei möglichen Deutungen sehr wohl seinen unverrückbaren Platz in der originalen Geschichte;
  • Das Wort tunken ist dem gedeuteten Menüfuß geschuldet und bereitet begrifflich das Anknabbern des Fußes der dritten Strophe vor. Diese formal begründeten, begrifflichen Vernetzungen sind einer der Wesenszüge von Brassens’ Lyrik, ein Setzen von begrifflichen »Absteckpfählen«, die den Gedanken leiten, wofür mir der französische Begriff jalonnage ganz passend erscheint;
  • ein wenig in den Fluss verwandelt sich in der Dopplung zu ’nig in den Fluss – deutbar und zwar zwangsläufig deutbar als Nich’ in den Fluss. Diese Andeutung von Zögern bzw. Andeutung eines schlimmen Endes lässt sich nicht als Bedeutung begreifen. Hier bewegt sich die Übersetzung auf Deutungsebene und hier sind wir im Reich der so genannten »dichterischen Freiheit«. Diese aus der konkreten sprachlichen Struktur erwachsende Deutung ist das Pendant der gedeuteten Apposition von pied-menu, also die sprachsystematische Untermauerung des Wortes List der zweiten Strophe. Gleichzeitig wird der inhaltliche Bogen zum tremper als »Mitmischen« geschlagen: nämlich – hier muss ich nun doch unbedingt das Original einmal interpretieren: der Eintritt eines Mädchens in die sexuelle Welt der Erwachsenen, vorher schon versinnbildlicht durch die schwindende Ähnlichkeit mit der Puppe, ja das Zerstören der Puppe... insofern versinnbildlicht tête coupée, wenn auch in der Bedeutung kaum fassbar, auf Deutungsebene auf jeden Fall den Verlust der Unschuld, wobei jedoch Opfer und Täter nicht voneinander zu trennen sind...

Einmal eingeführt, wird dieses inhaltliche Spiel mit der viersilbigen Dopplung in den Folgestrophen zum System erhoben: und die Deutungsebene kann über diesen strukturellen Umweg mit phonetisch-inhaltlichen Anspielungen und Andeutungen gefüllt werden; die Übertragung erhält Dimension.

2. Strophe:

  • reglos wie ein Fels wandelt sich im viersilbigen Echo zu los wie ein Fels. Das Lauern wird zum »Stein des Anstoßes«. Ich muss hier noch einmal das Original interpretieren, denn letztendlich möchte sich die aus der Form erwachsende Anspielung in die inhaltliche Spannweite des Originals einordnen: Ganz wichtig dort auch das Wechselspiel von Aktivität und Passivität in der gleichberechtigten sexuellen Annäherung. Wie schon bei Opfer und Täter im tête coupée, verweben sich hier Gegensätze, die keine sind, sondern nur Endpunkte einer zusammenhängenden Skala.

3. Strophe:
  • gehappt ersetzt das gehabt der früheren Fassung, aber nicht vollständig, sondern drängt es in die Deutungsebene – dies ist ohne eigentlich inhaltliche Auswirkungen, also analog zu cachalot im Original.

4. Strophe:
  • wäscht mir gehörig den Kopf ist das Pendant zu tenir le bec dans l’eau als übertragen zu verstehende und konkret-inhaltlich verwendete phraselogische Wendung. Wichtig war hier : Aktivität und das Vorhandensein von Wasser in der nicht wörtlich zu verstehenden Motivationsbedeutung (dieses Detailproblem behandle ich ausführlich an einem anderen Beispiel aus dem gleichen Chanson in meinem Vortrag »Übersetzungsmuster«).
  • wäscht mir gehörig den Kopf bringt als ...hörig den Kopf in der strukturellen Dopplung eine im Französischen so nicht vorhandene Andeutung von Hörigkeit ins Spiel, was sich dennoch in den Aktiv-Passiv-Grundtenor einfügt; hinzu kommt eine vage, auf das passive Lauern zurückführende Anspielung: hör’ ich den Kopf?
  • Damit ich ihr Mitleid erring -- Mitleid erring nunmehr ersetzt durch: Damit ihr Mitleid ich erring -- Leid ich erring; durch diese Umstellung wird auf Deutungsebene dem nicht so guten Ausgang der Geschichte vorausgegriffen...

Ich will nicht weiter ins Detail gehen, nur noch eines: Eine Sache lag mir noch irgendwie auf der Seele: der abgeschnittene Kopf des ersten Verses, der im Französischen so in Ohr und Auge springt und mir irgendwie im Deutschen noch fehlte, nicht mal im Sinne von Bedeutung oder Inhalt, sondern als repère, als jalon, als bildlich-gedanklicher Fixpunkt. Bis sich eine Lösung bot. Die in den ersten Strophen erzählte Liebesgeschichte wandelt sich, wie so oft bei Brassens, ins Soziale. Die natürlich-gleichberechtigte, »innige« (von innen heraus gefühlte) Liebe erfährt im Äußerlich-Sozialen den Makel einer gesellschaftlich-materiell »unehrbaren« Sache:

 
Chez ses parents, le lendemain,
J’ai couru demander sa main,
Mais comme je n’avais rien dans
La mienne, on m’a crié: « va-t’en ! »

Bei ihren Eltern am darauffolgenden Tage/anderntags
Bat ich hineilend/eiligst um ihre Hand,
Aber da ich nichts in der Meinen hatte,
Schrie man mich an: »Scher dich weg!«

In meiner ersten Übersetzung wollte ich die Formulierung dans la mienne erhalten, die mir stilistisch erhaltenswürdig erschien:

Chez ses parents, le lendemain,
    Le lendemain
J’ai couru demander sa main,
    Mander sa main
Mais comme je n’avais rien dans
La mienne, on m’a crié: « va-t’en ! » 
    Crié: « va-t'en ! »

Als ich vor ihren Eltern stand,
    Ihr’n Eltern stand
Bat ich tags drauf um ihre Hand,
    Um ihre Hand
Doch man schrie, denn meine war leer,
Dass ich mich weg zum Teufel scher’.
    Zum Teufel scher.

Strukturell-inhaltlich erhaltenswürdig war jedoch natürlich auch der zweisilbige Ausruf: « va-t’en ! » – »Scher dich weg! Hau ab!« am Ende der Strophe, so kurz und bündig, eigentlich dem herben Deutschen so angemessen. So war der Weg nicht weit zur letztlichen Lösung:

Chez ses parents, le lendemain,
    Le lendemain
J’ai couru demander sa main,
    Mander sa main
Mais comme je n’avais rien dans
La mienne, on m’a crié: « va-t’en ! »
    Crié : « va-t’en ! »

Als ich vor ihren Eltern stand,
    Ihr’n Eltern stand
Bat ich tags drauf um ihre Hand,
    Um ihre Hand
Doch man warf mir, denn ich war knapp
Bei Kasse, an den Kopf: »Hau ab!«
    Den Kopf: „Hau ab!“

Durch das Echo in dieser Strophe, der ersten »sozialen« Strophe -- Den Kopf hau ab --  wird der abgeschlagene Kopf assoziativer Bestandteil auch der deutschen Übertragung, ohne in die Bedeutungsebene vorzudringen, was in Anbetracht der Umverlagerung wohl auch ratsam ist. Dass sich diese Anspielung zudem nahtlos in die Abfolge der Geschichte eingefügt, sei der Vollständigkeit halber auch erwähnt. Hier erhellt sich aus der Übertragung wohl auch der tête coupée der ersten französischen Strophe: Der abgeschnittene Kopf ist auch im Original in der Deutung viel fassbarer als in der eigentlichen Bedeutung.

Ganz zum Schluss sei noch auf den Titel eingegangen. Die Frage der Titelgebung ist generell nicht unter Wert zu schlagen, auch wenn der Titel eher Beiwerk ist, aber Beiwerk im Sinne eines i-Tüpfelchens.

Nun steht also dem französischen Titel Comme une sœur der auf den ersten Blick vielleicht befremdlich anmutende deutsche Titel So als ob gegenüber. Da Brassens hier die ersten vier Silben des Liedtextes aufgreift, habe ich das Gleiche getan bzw. mich dann entsprechend dem deutschen Text auf drei Silben reduziert. Ohne dies im Einzelnen so geplant zu haben, ist der deutsche Titel SOWOHL aus dem Französischen ALS AUCH aus dem Deutschen heraus vollkommen sinnbildlich. Er greift die französischen Wendungen je fais semblant (d’être un poisson) aus der zweiten Strophe und faire mine (de me noyer) aus der vierten Strophe heraus und resümiert außerordentlich passend den im Deutschen zum System erhobenen inhaltlichen Wandel, den eine Reihe von Versen aus der Halbversdopplung erfahren.

 

3. SCHLUSSBEMERKUNG

Der gezeigte Lösungsansatz bietet mit Sicherheit kein generelles Rezept für die Lyrikübertragung. In dieser Deutlichkeit hat er sich nicht einmal im Rahmen von Brassens noch einmal angeboten (im Ansatz nur bei Les 4 bacheliers und Au bois de mon cœur). Es bleibt also genug Raum für ganz verschiedene kreative Herangehensweisen und das ist beruhigend. Allerdings sollte damit gezeigt werden, dass eigentliches Übersetzen als INHALTLICHE WIEDERGABE und adaptives Übertragen als DICHTERISCHE FREIHEIT sich nicht ausschließen müssen. Im Idealfall steht eine gelungene Übersetzung inhaltlich stellvertretend für ein fremdsprachiges Original und als Übertragung sprachlich eigenständig für sich selber. Im Idealfall treten nur inhaltliche Abweichungen auf, die sich auf einen formbezogenen Sinn zurückführen lassen, so wie im gezeigten Beispiel POTTWAL (cachalot) durch WELS (silure, poisson-chat) ersetzt wird, was unmotiviert erscheinen mag, sich aber erhellt, wenn man davon ausgeht, dass mittels Reimbezug der Verlust der phonetischen Anspielung cache-à-l’eau durch die strukturelle Anspielung (reg-)los wie ein Fels kompensiert wurde. Ganz salopp ausgedrückt: Wenn im Original außerhalb der Bedeutung ETWAS mitschwingt, sollte auch in der Übertragung ETWAS mitschwingen. Was dann konkret mitschwingt, das muss man wohl vertrauensvoll dem sprachlichen Zufall überlassen; das entscheidet die Sprache, in die übersetzt wird, und ist allein an der von der originalen Sprache losgelösten, abstrakten Interpretierbarkeit des Originals zu messen.

Nachsatz zur gestellten Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass man überinterpretiert?

Ich verweise noch einmal auf die Unterscheidung zwischen DEUTUNG (sprachlich gebunden) und INTERPRETATION (realitätsgebunden). Der Übersetzer muss auf jeden Fall sprachlich deuten -- das ist die handwerkliche Seite und genau darauf hat sich mein Vortrag bezogen. Dennoch kommt der Übersetzer nicht ohne Interpretation aus (so musste ich auch in diesem Vortrag dies an zwei Stellen tun). Die Gefahr besteht nicht darin, dass man überinterpretiert, sondern wohl eher darin, dass man durch Nicht-Interpretation letztlich de fakto einseitig interpretiert, das heißt die originale Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit glättet. Ein Gedicht arbeitet im Gegensatz zu technischen und auf das rationale Verständnis zielenden Texten mit den potenziellen Bedeutungen (= Deutungen, Andeutungen, Mehrdeutigkeit) denn mit den aktuellen Bedeutungen (= Eindeutigkeit). Es besteht somit eher die Gefahr, dass man "zu kurz greift", also unterinterpretiert...


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